- soziale Frage: Ein Problem des 19. Jahrhunderts
-
Soziale Frage ist ein Ausdruck, der seine Blütezeit in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte und damals ein europäischer Begriff war. Es gab zu dieser Zeit eine internationale Debatte zur sozialen Frage, nämlich zu Armut, sozialer Ausgrenzung und Ungleichheit, zu social problems, wie man in Großbritannien sagte, zur question sociale, wie es in Frankreich hieß. Man verstand unter diesen Begriffen in den meisten Ländern Europas etwa dasselbe, kannte nicht selten die Autoren anderer Länder und regte sich gegenseitig an.Nach dem Zweiten Weltkrieg dagegen überlebte dieser Ausdruck dauerhaft nur im katholischen und im anthroposophischen Milieu Europas und natürlich als Fachausdruck der Historiker. Wiederbelebungsversuche wie die Prägung des Begriffs der neuen sozialen Frage im westlichen Deutschland in den 1970er- und 1980er-Jahren waren nicht von Dauer.Anders als noch im 19. Jahrhundert gibt es heute in der politischen Sprache Frankreichs oder Großbritanniens kein direktes Pendant zu »soziale Frage« mehr. Exclusion sociale und social exclusion, das heißt soziale Ausschließung, kommen heute im Französischen und im britischen Englisch der »sozialen Frage« wohl nahe, aber im Deutschen assoziiert man mit sozialer Ausschließung auch andere Aspekte.Zwar tauchte der Ausdruck question sociale seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts in öffentlichen Debatten in Frankreich auf, aber im weiteren europäischen Rahmen begann die Debatte über die soziale Frage erst im Vormärz und während der Revolution von 1848/49. Sie lebte wieder auf während der 1870er-Jahre, als die europäischen Staaten die erste große Krise der neuen industriellen und kapitalistischen Wirtschaft erlebten. Danach verstärkte sie sich erst wieder in den letzten beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg, angestoßen durch die bis dahin erheblich gewachsene Bedeutung der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften in Europa.Der Begriff und seine ErfinderVon den Betroffenen der sozialen Frage, den Verarmten, Abgestiegenen und Ausgeschlossenen, wurde die soziale Frage um die Mitte des 19. Jahrhunderts selten in die öffentliche Diskussion gebracht, da sie kaum organisiert waren und sie zudem in der Regel zu der damaligen politischen Öffentlichkeit keinen Zugang besaßen. Weder die frühe bürgerliche Öffentlichkeit noch die aufkommende Massenöffentlichkeit bot ihnen Raum. Der Begriff soziale Frage spiegelt vielmehr eine Außenansicht auf die Betroffenen und mobilisierte in der Regel nicht die Betroffenen, sondern Betroffenheit. Er wurde von einer Schicht geprägt, die sich damals in Europa neu formierte, einer Schicht aus Intellektuellen, Sozialwissenschaftlern, Beamten, Schriftstellern, die sich allmählich gegenüber der alten Kirche, der alten aristokratischen Oberschicht, vor allem gegenüber den Höfen der Monarchen und der monarchisch kontrollierten Öffentlichkeit als eine neue moralische und politische Macht etablierte. Diese Schicht der Intellektuellen und des Bildungsbürgertums griff das Thema der sozialen Frage auf, teils aus Mitgefühl, teils aus lokalem Verantwortungsbewusstsein, teils aus Bedrohungsängsten und Furcht vor sozialen Explosionen. Sie setzte es — neben anderen Themen wie Nation, Verfassung, Markt, Kirche, Kunst und Familie — im Kampf um ihren Einfluss in der Gesellschaft ein. Für diese Schicht war die soziale Frage auch eine Dimension ihrer Auseinandersetzung mit der aufkommenden Industriegesellschaft, in der sie sich oft selbst schwer zurechtfand: Das damals neue Prinzip der wirtschaftlichen Gewinnmaximierung und der Priorität der Wirtschaft widersprach oft den Werten dieser Gruppe, deren sozialer Status auf dem hohen Wert der Bildung und auf einer Priorität des Kulturellen beruhte. In der Industriegesellschaft, in der sich die sozialen Hierarchien nach Vermögen und Einkommen richteten, fühlten sich die Angehörigen dieser Schicht nicht selten deklassiert. Sie konnten mit dem von Unternehmern geprägten, immer aufwendigeren und teureren Lebensstil der Oberschicht oft nicht mehr mithalten. Auch in ihrem eigenen Beruf wurden sie mit diesem neuen Prinzip der wirtschaftlichen Gewinnmaximierung konfrontiert, wenn nur Bücher mit hohen Auflagen oder Artikel in der neuen Massenpresse ein akzeptables Einkommen verschafften, zum neuen Erfolgsmaßstab wurden und andere Standards setzten. Die soziale Frage war daher auch die Kritik dieser sozialen Gruppe an einer Gesellschaft, in der sie häufig nicht zu den Gewinnern gehörte.Was beschreibt der Begriff soziale Frage?Mit der sozialen Frage wurden die allgemeinen Widersprüche zwischen den Anforderungen an eine optimale Gesellschaft und der Gesellschaftswirklichkeit angesprochen. Das Brockhaus Conversationslexikon umschrieb 1895 in diesem Sinn die soziale Frage als »ein Schlagwort, das zunächst in einem ganz allgemeinen Sinn aufzufassen ist,. .. dass die Zustände des gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht derartig sind, dass sie dem Ideal einer rational gestalteten Gesellschaftsordnung sich anzunähern geeignet sind«. Der Soziologe Ferdinand Tönnies verstand unter einer idealen Gesellschaft das »friedliche Zusammenleben und Zusammenwirken der in ihren wirtschaftlichen Lebensbedingungen, Lebensgewohnheiten und Lebensanschauungen weit voneinander entfernten Schichten, Stände, Klassen des Volkes«. Der Sozialreformer Franz Hitze dagegen sah in der sozialen Frage das »richtige, den Gesetzen der Gerechtigkeit und Billigkeit entsprechende Verhältnis der verschiedenen wirtschaftlichen Berufsgruppen«. Die soziale Frage war daher vor allem ein wertender Begriff, ein moralischer Blick auf die Gesellschaft: Er maß die gesellschaftliche Wirklichkeit an einem Wunschkonzept, an der Vorstellung eines optimalen Zusammenlebens von Menschen nach den Prinzipien der Gerechtigkeit und der sozialen Harmonie. Der Ausdruck soziale Frage beschrieb daher nicht nur einen Sachverhalt, sondern er sollte aufrütteln, Probleme markieren und Lösungen für eine bessere Gesellschaft vorschlagen.Die soziale Frage wurde darüber hinaus immer eng verbunden mit der damals neu entstehenden modernen Gesellschaft, nicht immer mit der Industrialisierung, aber doch mit der Beseitigung der vielfältigen wirtschaftlichen und sozialen Bindungen, Abhängigkeiten und Immobilitäten des Ancien Régime, wie zum Beispiel die Beseitigung von Heiratsverboten, Zunftregeln und Handelsbeschränkungen. Sie wurde also immer als eine moderne Frage verstanden. Denn sie meinte nicht jene Armut, die es schon immer gab: Hungernde, Bettler, Waisen, dauerhaft Kranke und gebrechliche Alte, Folgen von Epidemien, Seuchen, schlechten Ernten, Kriegen oder persönlichem Unglück. Die soziale Frage sprach ein neues Ausmaß von Armut und neue Formen materieller Bedrohung an, die mit der europaweiten Liberalisierung, welche zu Bevölkerungswachstum, Verstädterung, gewerblichem Aufschwung, neuen Berufen, neuen Verkehrsmitteln und neuer Mobilität geführt hatte, einherging. Diese Neuartigkeit des Hintergrunds der Armut wurde in das Zentrum des Begriffs gestellt.Zwei Richtungen standen sich von Anfang an in der Debatte mehr oder weniger scharf gegenüber: Auf der einen Seite verstanden viele Autoren unter der sozialen Frage vielfältige Arten von Verarmung sozialer Schichten nicht nur der Arbeiter, auch der Bauern, Handwerker, Dienstboten; sie betrachteten ländliche wie städtische Armut, Armut von unterschiedlichen Berufsmilieus oder Lebensphasen. Diese Auffassung findet sich oft bei Autoren, die aus weniger industrialisierten Ländern Europas kamen oder primär an solche Gesellschaften dachten. Die katholische Kirche, die einen Großteil ihres Kirchenvolks im nichtindustrialisierten Süden und Osten Europas hatte, hing ebenfalls diesem Verständnis von sozialer Frage an. Aber auch in industrialisierten Ländern vertraten manche Sozialreformer diesen Ansatz; das Arbeitsprogramm des deutschen Vereins für Sozialpolitik spiegelt dieses Verständnis auch noch um die Jahrhundertwende wider.Auf der anderen Seite reduzierten viele Autoren die soziale Frage ganz auf die Arbeiterfrage, also auf den Konflikt zwischen Arbeitern und Unternehmern. Lorenz von Stein trug diese Deutung der sozialen Frage schon 1852 vor und schied in diesem Sinn die soziale Frage scharf von der traditionellen Armut. »Die Armut entsteht da, wo die Arbeitsfähigkeit verloren oder die wirkliche Arbeit nicht imstande ist, die natürlichen, allgemein menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen;. .. die soziale Frage, deren Lösung durch die soziale Reform angestrebt wird, liegt nirgends anders als in den Gesetzen, welche das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit, und eben dadurch die Gesellschaft, die Verfassung und die Entwicklung jeder einzelnen Persönlichkeit beherrschen.« Besonders in den beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg folgten darin viele Autoren, vor allem aus entstehenden Industriegesellschaften, Lorenz von Stein. Der entscheidende Grund lag sicher darin, dass die politischen und gewerkschaftlichen Organisationen der Industriearbeiter zu einem unübersehbaren Machtfaktor in Europa wurden und deshalb auch unter jenen, die den Begriff der sozialen Frage geprägt hatten, viel mehr Aufmerksamkeit, Nachdenklichkeit oder Ängste erregten als die weit schwächeren Organisationen anderer Benachteiligter der Industrialisierung, etwa der kleinen Bauern, Handwerker, Händler, der Heimarbeiter, Landarbeiter oder Dienstboten.Die große Bedeutung, die die soziale Frage im 19. Jahrhundert errang, hatte vor allem damit zu tun, dass sie ein gemeinsamer Terminus der meisten politischen Richtungen der Zeit war. Liberale, Traditionalisten und Etatisten diskutierten in gleicher Weise über die soziale Frage. Allerdings entstanden unübersehbar tiefe Gräben zwischen diesen Richtungen. Man kann grundsätzlich drei verschiedene Richtungen unterscheiden: Die Liberalen wollten die soziale Frage vor allem durch sozialen Aufstieg, durch rationale Lebensführung und durch Durchsetzung von Bürger- und Menschenrechten lösen. Neben einer liberalen Verfassung wurden dabei vor allem die Verbesserung der Ausbildung und die Schaffung von privaten Assoziationen, Konsumvereinen, Sparkassen, sozialen Unterstützungsvereinen als die entscheidenden Hebel angesehen. Von staatlicher Seite erwarteten sie im Wesentlichen nur Arbeitsschutzgesetze. Die Traditionalisten schlugen als Lösung der sozialen Frage eine mehr oder weniger weitgehende Wiederherstellung einer ständischen Gesellschaft, eine Wiederbelebung von karitativen Einrichtungen der Kirchen, vor allem eine veränderte ethische Einstellung in den Unterschichten und Arbeiterorganisationen unter dem Einfluss der Kirchen vor. Die Etatisten dagegen setzten bereits in der ersten Jahrhunderthälfte auf den Staat, oft auf eine aufgeklärte Monarchie, die mit wohlfahrtsstaatlichen Elementen angereichert werden sollte.Der Problematik der sozialen Frage wurden spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts drei soziale Konzepte gegenübergestellt, wodurch der Begriff soziale Frage in einem langsamen Prozess teils umgedeutet, teils verdrängt wurde. Das erste und älteste Gegenkonzept, das aus der französischen und amerikanischen Doppelrevolution des späten 18. Jahrhunderts stammte, war und ist bis heute die Zivilgesellschaft. Das zentrale Anliegen dieses Konzepts war die Durchsetzung von Menschen- und Bürgerrechten, die die Bürger rechtsgleich vor dem Staat schützten und ihnen gleichzeitig Einfluss auf Regierungsentscheidungen gaben. In der Zivilgesellschaft hatte die Durchsetzung dieser Menschen- und Bürgerrechte erste Priorität. Die soziale Frage, die Probleme der Armut und sozialen Ungleichheit, erschienen dabei durch die Gleichheit der Menschen- und Bürgerrechte lösbar.Das zweite Gegenkonzept entstammte der sozialistischen Begriffswelt und rückte in einer fundamentalen Kritik der marktwirtschaftlichen Industriegesellschaft den Gegensatz von Unternehmern und Arbeitern ins Zentrum. Lorenz von Stein ist ein besonders prominenter Vertreter dieses Konzepts. Aber im Verlauf des späteren 19. Jahrhunderts verzichtete das sozialistische Milieu mehr und mehr auf den Begriff der sozialen Frage und ersetzte ihn durch Begriffe wie kapitalistische Ausbeutung, Klassenkonflikt oder Arbeiterklasse.Das dritte, jüngste, weniger spektakuläre Gegenkonzept entwickelten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die Sozialreformer. Sie schufen neue Begriffe der Arbeit, der Arbeitslosigkeit, der Sozialpolitik, die anders als das Konzept der sozialen Frage die moderne Marktwirtschaft nicht mehr grundsätzlich moralisch problematisierten, sondern genau umgrenzte Reformziele wie etwa Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, der Altersarmut, der Arbeitsunfähigkeit durch Krankheit benannten. Diese drei Konzepte grenzten sich nie scharf voneinander ab, enthielten aber doch im Grundsatz unterschiedliche Interpretationen der Industriegesellschaft und zielten auch auf unterschiedliche Lösungen ihrer Probleme ab.Die historische Bedeutung der sozialen FrageDie Debatte über die soziale Frage war eine der gewichtigen Reaktionen in der europäischen Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts auf die negativen sozialen Folgen der Industrialisierung, auf Armut, auf gesellschaftlichen Ausschluss und auf Verlust der sozialen Sicherung. Sie schärfte das öffentliche Bewusstsein und hielt teilweise auch die öffentliche Aufmerksamkeit für Armut und soziale Unsicherheit jenseits der Industriearbeiter wach, obwohl die Lage der Industriearbeiter in der Öffentlichkeit der klassischen Industriegesellschaft alle anderen negativen Folgen der Industrialisierung zu überschatten drohte. Das Konzept der sozialen Frage hatte schließlich auch den Vorzug, dass es lange Zeit Teil einer allgemeinen, milieu- und parteiübergreifenden Sprache und Verständigung war.Der Begriff verlor jedoch spätestens in der Zwischenkriegszeit seine grundlegende Bedeutung, nicht weil die Probleme, die er ansprach, gelöst gewesen wären, sondern weil er nie wirklich Teil der Sprache der Betroffenen wurde, sondern sprachlicher Ausdruck einer Außenansicht blieb. Was unter diesem Ausdruck beschrieben wurde, war deshalb auch oft zu sehr Selbstdiagnose der Benutzer dieses Ausdrucks, ihrer verschiedenen politischen Richtungen und Organisationen, zu wenig Diagnose der Betroffenen. Die Begriffe, die Armut und soziale Unsicherheit markierten, wurden zunehmend als Zeichen für die Abgrenzung und Konfrontation von Milieus und immer weniger als Mittel einer allgemeinen politischen und sozialen Sprache genutzt.Der historische Hintergrund — Armut und soziale UnsicherheitDie soziale Frage war nicht einfach eine Kopfgeburt von Intellektuellen, ein wirklichkeitsabgehobenes Schlagwort. Die Misere der materiellen Situation des Großteils der Europäer, nicht nur einer schmalen Schicht von marginalen Armen, war in Teilen des 19. Jahrhunderts bedrückend. Ein deutliches Zeichen dafür war die Lebenserwartung der Europäer: Sie lag noch am Ende des 19. Jahrhunderts erst bei rund vierzig Jahren. Damit war sie weit niedriger als in den heutigen asiatischen und lateinamerikanischen Schwellenländern wie Indien, Indonesien oder Brasilien. Die Säuglingssterblichkeit war erschreckend hoch, sie lag um 1870 je nach europäischem Land zwischen zehn und dreißig Prozent, war besonders hoch in Deutschland und in der Habsburger Monarchie; sie betrug in einem Extremfall wie Bayern sogar ein Drittel. Selbst die ärmsten afrikanischen Länder leiden heute nur selten unter einem solchen Ausmaß an Säuglingssterblichkeit. Das sind darüber hinaus nur Durchschnittszahlen: Unter den ärmeren Europäern war die Situation noch weit schlimmer. Hinter dieser niedrigen Lebenserwartung und hohen Säuglingssterblichkeit stand in großen Teilen des 19. Jahrhunderts eine bedrückende Armut, die damals einen gewichtigen Teil der Europäer traf. Man schätzt, dass zwanzig bis dreißig Prozent der städtischen Bevölkerung in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts von der städtischen Armenpflege unterstützt wurden. Die Ernährung der Masse der Bevölkerung war bis in die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts in einigen Regionen Europas noch von regelmäßigen Hungerkrisen geprägt. Bis in das späte 19. Jahrhundert gab es Seuchen. Von der Hygiene profitierte lange Zeit nur eine kleine Minderheit der Städter. Die Masse der Städter und Landbewohner in Europa kannten damals weder Frischwasser noch Kanalisation oder Straßenreinigung. Es muss die fortschrittsbewussten Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts, die Europa als Pionier der modernen Zivilisation ansahen, äußerst irritiert haben, dass sich im Ganzen diese europäische Misere im 19. Jahrhundert lange Zeit nicht spürbar und durchschlagend verbesserte. Über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus gab es außerhalb der inselartigen Industrieregionen noch keine spürbare Verbesserung der materiellen Lage der unteren Schichten. Aber auch innerhalb der Industrieregionen verbesserte sich der Lebensstandard spürbar nur für eine schmale Schicht von gelernten Industriearbeitern, die sich durch dauerhafte Beschäftigung, durch höhere Löhne, durch eine gewisse Arbeitsautonomie und auch außerhalb der Fabriken durch einen anderen Lebensstil von den übrigen Arbeitern abhoben. Die Ärmlichkeit und Notlage der meisten Menschen änderte sich dagegen kaum. Trotz der verbesserten landwirtschaftlichen Anbaumethoden gab es in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder Nahrungsverknappungen, Seuchen und Hungersnöte. Die Lebenserwartung, der vielleicht wichtigste Indikator, brach daher in europäischen Ländern wie Schweden, Norwegen, Finnland, Dänemark, Frankreich, Großbritannien und die Niederlande, in denen sie weit zurückberechnet wurde, bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zeitweise wieder ein oder stieg nicht kontinuierlich an. Auch die Säuglingssterblichkeit wies in den meisten europäischen Ländern im 19. Jahrhundert keinen klaren Trend zur Verbesserung auf.Die Ungleichheit nahm während der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts eher zu und war gerade in den modernen Teilen der Gesellschaft besonders scharf ausgeprägt. Die sozialen Unterschiede der Einkommen und Vermögen verschärften sich vor allem zwischen dem aufsteigenden Bürgertum und den übrigen Teilen der europäischen Gesellschaften. Die Ungleichheiten am Arbeitsplatz in den modernen Industriebetrieben waren während der eigentlichen industriellen Revolution in der Bezahlung, in der Lebensverdienstkurve, in der Behandlung durch die Chefs und der Kontrolliertheit bei der Arbeit und in der Verwendbarkeit von Ausbildung markant ausgeprägt. Die Spannweite in der Bildung zwischen dem sich immer mehr akademisierenden Bürgertum und der erdrückenden Mehrheit der Elementarschulabsolventen und Analphabeten in der übrigen Bevölkerung war, für uns heute schwer vorstellbar, groß. Man kann auch hier von einer Verschärfung der sozialen Ungleichheit sprechen, da das Bürgertum immer mehr aus Universitätsabsolventen bestand und sich dadurch immer schärfer von der übrigen Gesellschaft abhob. Die Unterschiede in der Qualität des Wohnens verschärften sich zumindest in den Industriestädten mit der starken Nachfrage nach preiswerten kleinen Wohnungen. Es gab schließlich auch zunehmende soziale Unterschiede bei Krankheit und Tod. Diese Unterschiede bestanden zwischen Städtern und Landbewohnern, zwischen gelernten und ungelernten Arbeitern, zwischen Angestellten und Arbeitern, zwischen dem Bürgertum und der übrigen Gesellschaft. Die politisch folgenreichste Entwicklung war die Entstehung und Verschärfung der Trennlinien zwischen den sozialen Klassen der Arbeiter und des Bürgertums.Dieser Eindruck drängte sich auch deshalb auf, weil sich darüber hinaus auch die Aufstiegschancen der Arbeiter und Unterschichten im 19. Jahrhundert im Ganzen nicht erkennbar verbesserten: Die Chancen, in besser bezahlte, sicherere, angesehenere Berufe aufzusteigen, blieben gering, waren in den neuen Industriestädten sogar oft besonders schlecht. In einer ganzen Reihe von europäischen Städten, vor allem in Gewerbe- und Industriestädten, nahmen die Aufstiegschancen für Arbeiter im Verlauf des 19. Jahrhunderts sogar ab. Weder das damalige Schulsystem noch die Unternehmensstrukturen boten verbesserte Aufstiegschancen. Erst im 20. Jahrhundert sollten sich die Mobilitätsbarrieren etwas lockern.Schließlich schwächten sich auch die sozialen Sicherungen der Durchschnittsbürger in dem allmählichen Übergang vom Ancien Régime zur modernen Industriegesellschaft ab. In dem schwierigen und langsamen Übergang von den traditionellen Sicherungsnetzen des Ancien Régime zur modernen, staatlichen, hochbürokratisierten, auf einer ganz anderen Gesellschaft aufbauenden sozialen Absicherung entstanden im Großteil des 19. Jahrhunderts vielfältige soziale Sicherungslücken. Mehr als das 18. Jahrhundert und mehr als das 20. Jahrhundert war das 19. Jahrhundert eine Zeit schwacher sozialer Sicherung. Zum Verfall der traditionellen sozialen Sicherung des Ancien Régime trugen verschiedene Gründe bei. Das massive Bevölkerungswachstum — Europas Bevölkerung (ohne Russland) stieg allein von 1820 bis 1870 von rund 150 Millionen auf etwa 210 Millionen — vergrößerte in einer ganzen Reihe von europäischen Ländern die Anzahl der Armen und damit die Belastung der kommunalen Armenkassen, da dieses Bevölkerungswachstum in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts noch nicht durch die Industrialisierung und ihr wachsendes Angebot von Arbeitsplätzen aufgefangen wurde. Der Verfall der traditionellen Sicherung war darüber hinaus auch politisch gewollt. Die Einstellung zur Armut und Armenpflege wandelte sich. Armut wurde nicht mehr als unveränderbarer Bestandteil jeder Gesellschaft akzeptiert, sondern sollte durch Hilfe zur Selbsthilfe, durch Erziehung der Armen, aber auch durch gezielte Abschreckung und Kriminalisierung des Bettelns und Vagabundierens eingedämmt werden. In den wichtigsten europäischen Modellgesellschaften des 19. Jahrhunderts, in Frankreich und Großbritannien, wurde im Sinn dieser neuen Einstellungen die staatliche Armenpflege drastisch reduziert, da man Armenhilfe nicht zur Aufgabe eines modernen, liberalen, möglichst schlanken Staates rechnete und man zudem befürchtete, dass die traditionelle staatliche Armenhilfe die Motivation zur Arbeit aushöhlte. In Frankreich geschah das während der Französischen Revolution, in Großbritannien im Armutsgesetz von 1834. Schließlich trugen auch die Säkularisierung der Kirchen im Einflussbereich des napoleonischen Frankreich, die Auflösung der Handwerkszünfte mit ihren sozialen Sicherungsinstitutionen für die breite Schicht der Handwerker, auch die Lockerung der Bindung der Bauern an den Gutsbesitz zu einer Reduzierung von traditionellen sozialen Sicherungen bei, die zudem mit der entstehenden Industriegesellschaft nur schwer vereinbar waren. In einem langsamen Übergang lockerte sich allmählich die Verantwortlichkeit der Kommunen und der städtischen Honoratioren, der Gutsherren und Handwerksmeister, der Kirchen für die Armen, eine Verantwortlichkeit sowie die sich meist auf wenig Mobilität und starke lokale Bindungen gründete. Nur langsam entwickelten sich die neuen sozialen Sicherungen. Gewiss entstand eine Vielzahl von Sicherungsinstitutionen in privater und halbstaatlicher Form. Trotzdem wurde die- ser Übergang für viele Europäer zu einer Anpassungskrise mit beträchtlicher sozialer Unsicherheit.Erst in der letzten Zeit vor dem Ersten Weltkrieg veränderten sich die Probleme, auf die das Konzept der sozialen Frage aufmerksam gemacht hatte. Die Misere der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, die immer wiederkehrenden Hungersnöte, Seuchen, der immer wiederkehrende Rückfall in die Armut für einen substanziellen Teil der Europäer milderten sich ab, je mehr sich die Industriegesellschaft etablierte. Die Reallöhne nahmen zumindest für Industriearbeiter langsam zu, die Arbeitszeit sank, auch wenn sich die Masse der Industriearbeiter weiterhin — für heutige Maßstäbe — mit unakzeptablen Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen abzufinden hatte. Die wichtigsten Indikatoren der Misere wiesen auf Verbesserungen hin: Die Lebenserwartung begann kontinuierlich zu steigen, die Säuglingssterblichkeit kontinuierlich zu fallen.Das Ende der schwierigen Anpassungskrise der sozialen Sicherung war spätestens in der Zwischenkriegszeit allmählich in Sicht. Auch wenn der Wohlfahrtsstaat der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts noch nicht konzipiert war, nahmen doch überall in Europa staatliche Sozialversicherungen spürbar zu. Man schätzt, dass in den europäischen Pionierländern der staatlichen Sozialversicherungen, in Deutschland, Großbritannien und Schweden, um 1910 schon rund zwei Fünftel der Erwerbstätigen und im westeuropäischen Durchschnitt um 1940 schon ungefähr die Hälfte der Erwerbstätigen, in Ländern wie Großbritannien, Dänemark, Schweden, Norwegen, Deutschland noch erheblich mehr durch staatliche Sozialversicherungen abgesichert waren. Sicher gibt es keinen Grund, die Kriegs- und Zwischenkriegszeit zu idealisieren. Sie war ebenfalls eine Epoche, die von Massentod, Hungerkrisen, riesigen Arbeitslosenzahlen geprägt war. Aber diese neuen Krisen hatten nichts mehr mit der sozialen Frage des 19. Jahrhunderts und ihren Hintergründen zu tun.Die europäische Dimension der sozialen FrageDie soziale Frage war im 19. Jahrhundert eine europäische Besonderheit, da nirgends sonst die Bevölkerung in dieser Zeit so stark wuchs, die Städte so stark expandierten, die Armen und Ausgeschlossenen so rasch zunahmen wie hier und nirgends die Armenpolitik und die ständischen Korporationen so tief greifend nach einem liberalen Konzept um- und abgebaut wurden wie in Europa. Als die anderen älteren Zivilisationen, China, Indien, die arabische Welt, im 20. Jahrhundert industrialisierten, spielte für sie die soziale Frage keine bedeutende Rolle mehr, da ihnen der spätere westeuropäische Wohlfahrtsstaat, das amerikanische Wohlstandsmodell und das sowjetische Modell der staatlichen Lenkung als mögliche Vorbilder dienen konnten. Gleichzeitig war im 19. Jahrhundert in keiner anderen Zivilisation die soziale Sicherung so drängend, nicht nur weil damals in Europa die Bevölkerung zunahm, ohne dass die Industrialisierung ausreichend Beschäftigung sicherte. Darüber hinaus war die Familie in Europa auch stärker als auf anderen Kontinenten auf eigenständige Haushaltsgründung junger Ehepaare ausgerichtet und bot daher für junge Erwachsene und für alternde Eltern besonders wenig soziale Sicherung, war deshalb stärker als außereuropäische Zivilisationen auf außerfamiliäre Institutionen der sozialen Sicherung angewiesen. Das Konzept der sozialen Frage als einer an einem allgemeinen säkularen Prinzip gemessenen Wirklichkeit entsprang somit einer europäischen Denkweise.Prof. Dr. Hartmut KaelbleGrundlegende Informationen finden Sie unter:Pauperismus: Ausbeutung und MassenelendCharle, Christophe: Vordenker der Moderne. Die Intellektuellen im 19. Jahrhundert. Aus dem Französischen. Frankfurt am Main 1997.Familie und soziale Plazierung. Studien zum Verhältnis von Familie, sozialer Mobilität und Heiratsverhalten an westfälischen Beispielen im späten 18. und 19. Jahrhundert, Beiträge von Jürgen Kocka u. a. Opladen 1980.Fischer, Wolfram: Armut in der Geschichte. Erscheinungsformen und Lösungsversuche der »Sozialen Frage« in Europa seit dem Mittelalter. Göttingen 1982.Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, herausgegeben von Gerhard A. Ritter. Band 1 und 2. Bonn 1990.Kaelble, Hartmut: Industrialisierung und soziale Ungleichheit. Europa im 19. Jahrhundert. Eine Bilanz. Göttingen 1983.Kaelble, Hartmut: Soziale Mobilität und Chancengleichheit im 19. und 20. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich. Göttingen 1983.Marshall, Thomas H.: Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates, herausgegeben von Elmar Rieger. Aus dem Englischen. Frankfurt am Main u. a. 1992.Montanari, Massimo: Der Hunger und der Überfluß. Kulturgeschichte der Ernährung in Europa. Aus dem Italienischen. München 21995.Reidegeld, Eckart: Staatliche Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und theoretische Analyse von den Ursprüngen bis 1918. Opladen 1996.Ritter, Gerhard A.: Arbeiter, Arbeiterbewegung und soziale Ideen in Deutschland. Beiträge zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. München 1996.Ritter, Gerhard A.: Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich. München 21991.Schüren, Reinhard: Soziale Mobilität. Muster, Veränderungen und Bedingungen im 19. und 20. Jahrhundert. St. Katharinen 1989.Weder Kommunismus noch Kapitalismus. Bürgerliche Sozialreform in Deutschland vom Vormärz bis zur Ära Adenauer, herausgegeben von Rüdiger vom Bruch. München 1985.
Universal-Lexikon. 2012.